Artikel
vom 30.11.2001
Autor:
Christoph Gatzen
Es
gibt deutliche Anzeichen für den Winter 2001/2002...
Irgendein
Morgen in der vergangenen Woche: Es ist noch dunkel draußen, es
regnet und ist ungemütlich. Trotzdem ist die betrachtete Unterart
des homo sapiens, der homo synopticus, schlagartig wach. Mit dem
ersten Blick bereits den Rechner fixierend, springt er aus dem Bett
und drückt den Startknopf. Das ist für gewöhnlich sowieso die erste
Handlung des Tages, man will ja schließlich informiert sein. Und
hofft, dass der Traum der letzten Nacht auch Wirklichkeit wird...
wie war das noch? Schneewehen so hoch wie Häuser, das gesamte Polargebiet
1070 und mehr, ... Wo bleiben endlich die Karten? Der Rechner startet
nervenaufreibend langsam... doch dieser Augenblick erzwungenen Innehaltens
lässt einen nicht ganz unfreiwillig darauf aufmerksam werden, welche
Brisanz in den jetzigen Sekunden liegt: Sie, allein sie entscheiden
den Verlauf des gesamten Winters, der vor einem liegt. Die Stimmung
am heutigen Tag sowieso.
Wir
haben Ende November, und am 1. Dezember beginnt bekanntlich der
meteorologische Winter. Welche Ignoranz, dass in der nicht-meteorologischen
Bevölkerung der zweitkürzeste Tag sowie 90 Prozent des Weihnachtsgeschäfts
(jawohl, der 23. Dezember ist ein Sonntag!) zum Herbst gerechnet
werden. Der meteorologische Winter gehört den Meteorologen. Wenn
schon Schnee, dann bitte in diesem Zeitraum. Schnee im März macht
keine Freude... Die Sonne steht hoch am Himmel und frisst ihn auf.
Wer will da zusehen müssen? Dann schon lieber Anfang Dezember, wenn
der Schnee selbst für sein Überleben sorgen kann. Vorausgesetzt,
die Wetterlage gestaltet sich nicht allzu ungünstig. Und so hofft
der Meteorologe rund um den Erdball, ob in französisch Guyana oder
auf Amundsen-Scott, dass der Winter doch bitte immer günstige Wetterlagen
für ihn bereithält. Diese Hoffnung wird im Laufe eines jeden Winters
nahezu vollständig vernichtet, und es macht sich wachsende Frustration
breit. Verwünschungen gegen atlantische Tiefdruckwirbel, die Frontalzone,
die von Ostkanada bis Westsibirien einer Flugroute gleicht oder
die allgegenwärtige Warmluft, in der es bis in alpine Gipfellagen
regnet, helfen da nicht.
Die
Hoffnung stirbt aber bekanntlich zuletzt, und nach dem Ende des
meteorologischen Winters stellt der Optimist fest, dass es ja nur
noch 9 Monate bis zum nächsten sind. Und da könnte es ja... ...
... Genauer betrachtet wäre es höchste Zeit für einen kalten Winter.
So oder ähnlich fiebern fast alle Meteorologen, von der höchst abnormalen
Unterart der Stormchaser einmal abgesehen, bei 30 Grad im Schatten
dem kommenden Winter entgegen. Und spätestens im September, oft
schon Mitte August, kennt die Vorfreude auf das unweigerlich bevorstehende
Schneechaos kein Halten mehr. Dann das: Der Altweibersommer fällt
ins Wasser, der Oktober bringt Biergartenwetter und Mitte November
bequemen sich die ersten Blätter von den Bäumen. Wer auch nur wenig
mit der Materie der saisonalen Witterungsprognose vertraut ist,
beginnt, fossile Energieträger zu bunkern, kauft Schlittschuhe,
solange es noch welche gibt, und starrt intensiv auf 360-stündige
Prognosekarten, die ihn zu anderen Jahreszeiten nicht ansatzweise
interessieren. Es muss doch was passieren, eine Andeutung, ein Zeichen...
Und
dann ist es soweit. In 200 Stunden schon soll sich ein Hoch aufbauen,
das den stetigen Weststrom wirksam unterbindet. Und dazu noch genau
zu Beginn des meteorologischen Winters... jemand hat behauptet,
dass das bei allen Extremwintern so der Fall war. Und schon kennt
die Begeisterung keine Grenzen. Viele Jahre des Wartens auf solch
ein Ereignis scheinen vorbei zu sein! Wer redet noch von einem kalten
Winter? Strengwinter, Ostwinter, Katastrophenwinter, so etwas kursiert
nun im Sprachgebrauch auch sonst um Seriosität bedachter Meteorologen.
Plötzlich wird der Blick frei auf das große Ganze, und alle Ereignisse
der vergangenen Wochen, ja Monate fügen sich in das neue Bild ein:
Die Affenhitze am 16. August passt doch genauso in diesen Kontext
wie der erste Schneefall um den Buß- und Bettag. Wenngleich, eine
entscheidende Unsicherheit bleibt: Die Modelle, die letztendlich
die Euphorie zu verantworten haben, haben auch die weitere Entwicklung
in der Hand... denn soviel ist sicher: Wenn sie einen Kaltlufteinbruch
vorhersagen können, dann können sie ihn auch wieder zurücknehmen.
Das kann kein Meteorologe ernsthaft bestreiten. Und so entscheiden
ausgerechnet die, als übermächtig werdende Konkurrenz angefeindeten
numerischen Modelle, über die Gemütslage der nächsten Tage. So ist
es für den Laien nicht weiter schwer, die zukünftige Wetterentwicklung
einzuschätzen: Kennen Sie einen Meteorologen persönlich? Wie geht
es ihm? Wie ist er gelaunt? Ja, genau so ist es auch um den Winter
bestellt, so simpel ist das. Und wenn Sie keinen Meteorologen kennen?
Kein Problem, es gibt doch die Wetterzentrale... zum Beispiel wird
dort heute geschrieben: „Wenn das so kommt, kann man den Dezember
bis 15. mindestens abhaken, dann kann es vielleicht mal hinter einem
Tief zu einer Nordwest- bis Nordströmung kommen. Vielleicht gibt’s
ja dann wenigstens mal Sturm, wenn es schon keinen Winter gibt...“
Na dann ist doch alles klar! Kein Winter in Sicht. Gut, wenn Sie
noch keine Schlittschuhe gekauft haben, um auf dem Bodensee oder
dem Rhein rumzukurven. Und ein milder Winter wirkt sich zudem günstig
auf die Heizkosten aus. Falls Sie aber einen Meteorologen treffen,
trösten Sie ihn bitte. Denn für viele Meteorologen macht ein verpatzter
Start auch gleich die ganze Saison kaputt. Neben der unendlich großen
Frustration keimt aber schnell neue Hoffnung: Noch 12 Monate...
Die
letzte Nacht.
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